Luzerner Zeitung, Bojan Stula, 1.2.2022
Zahlreiche Gäste und Prominenz feiern in Liestal die Vernissage von «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus».
Untätigkeit und Denkfaulheit kann man René Rhinow bestimmt nicht vorwerfen. Selbst in seinem 80. Lebensjahr nicht. Knappe drei Jahre nach den autobiografischen Aufzeichnungen in «Alles mit Mass» legt der Baselbieter alt FDP-Ständerat und emeritierte Staatsrechtsprofessor ein Übersichtswerk zum Freiheitsbegriff, dem Liberalismus und der beidseitigen Verknüpfung vor. Rhinows neues Buch «Freiheit in der Demokratie» feierte am Dienstagabend Vernissage in der Baselbieter Kantonsbibliothek in Liestal. Eine zweite öffentliche Präsentation folgt am Donnerstag in Zürich.
Das 232 Seite umfassende, im Hier und Jetzt-Verlag erschienene Werk trägt den Untertitel «Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus» und ist genau das: ein angesichts in Erregung auseinander driftender Gesellschaften wohltuender Appell an den gesunden Menschenverstand. Allerdings ebenso Ideengeschichte und Wegweiser durch den Dschungel der Liberalismus-Definitionen.
Was in Ländern wie den USA und Frankreich inzwischen als Schimpfwort gilt, ist in der Schweiz zumindest doppeldeutig. In einer Strassenumfrage würde es wohl niemandem gelingen, Liberalismus mit der Suche nach Wegen zu definieren, «wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können». Eine derartige Auffassung bezeichnet Rhinow als gemeinsamen Nenner aller Auslegungen.
Allerdings sind genau diese Schlagwörter «Freiheit» und «Selbstverwirklichung» hinterhältig und voller Tücke. Rhinow zitiert die Basler Philosophin Annemarie Pieper, «wie die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten». Möglicherweise lasse sich sogar die Wut von frustrierten und vernachlässigten Menschen in unerfüllten Erwartungen auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Populisten hätten dann leichtes Spiel, gegen die vermeintlichen Urheber der Freiheitsbeschränkung zu hetzten: gegen gesellschaftliche Eliten und eine, wie Rhinow sie nennt, «konstruierte politische Klasse». Freiheit werde dann zum agitatorischen Kampfbegriff für die Stimmungsmache gegen legale Anordnungen und Fremde.
Der Baselbieter Staatsrechtler lässt keinen Zweifel daran, wo die Grenzen des Liberalismus liegen, wenn man diesen menschenwürdig in die Tat umsetzen will. Bestimmt hat Rhinow auch die Impfdiskussion zu Coronazeiten im Kopf, wenn er schreibt:
«Liberale fragen, wie es um die Würde von Schutzbedürftigen und von Schwächeren in ihrer konkreten Situation steht. Freiheit gestattet nicht, Anderen Nachteile zuzufügen, sie zu schädigen oder an Leib und Leben zu gefährden. Denn dadurch wird deren Freiheit beeinträchtigt.»
Als liberale Grundwerte nennt Rhinow Mitmenschlichkeit, Demut, Respekt, Toleranz und Fairness. Diese gäben wie ein Kompass die Richtung hin zu einer authentisch liberalen Gesellschaft vor, liessen aber unterschiedliche Wege offen. Während der Nationalstaat das Nationale in den Hintergrund zu rücken habe und die Verfassung in den Vordergrund, um seine unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu integrieren, müssten Liberale den Zugang zu abgehängten Schichten suchen und in deren Sprache ernsthaft und vorurteilsfrei über deren Probleme diskutieren.
Schliesslich warnt Rhinow vor falschen Grunderwartungen an den politischen Liberalismus:
«Es kann dem Liberalismus nicht um eine Angleichung der Lebensumstände gehen, sondern um die Annäherung an eine Gleichheit der Startbedingungen, um eine Chancengleichheit. Auch deshalb sorgen sich Liberale um eine entsprechende Bildung und Ausbildung aller.»
Im gleichen Atemzug betont der Autor die Bedeutung der Denkanstösse, welche die Kultur einzubringen vermag: «Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden.»
Grossaufmarsch an der Vernissage in Liestal
Alles schön, richtig und wichtig, findet die Baselbieter FDP-Politikerin Saskia Schenker an der die Liestaler Vernissage abschliessenden Podiumsdiskussion. Doch wenn im politischen Alltag rasche Meinungen und Entscheide gefragt seien, dann sei die Gefahr gross, dass die eigene liberale Grundhaltung auf der Strecke bleibe. Das führt die ehemalige FDP-Kantonalpräsidentin zur interessanten These, dass gerade der Anspruch auf einen stets sich hinterfragenden, reflektierenden Liberalismus den liberalen Staat schwäche, da in der medial befeuerten Polarisierung die leise, abwägende Position kaum mehr gehört werde.
Die junge Berner FDP-Politikerin und Aktivistin Laura Zimmermann, Co-Präsidentin der Operation Libero, kritisierte ebenfalls pointiert die Kluft zwischen liberalem Denken und Handeln, was sie insbesondere «gewissen älteren Herren» in ihrer Partei zuschrieb. Die Operation Libero sei genau aus der Frustration heraus über solcherlei Widersprüche entstanden. Bevor aber die Podiumsdiskussion allzu sehr den Charakter einer FDP-internen Richtungsklausur annahm, zog der Autor die Reissleine: «Ich habe kein Buch über Parteiprogrammatik geschrieben», stellte Rhinow klar. Vielmehr sei «Freiheit in der Demokratie» eine Anregung zur Diskussion, welche die Grundthese vertrete, den Liberalismus nicht als politische Doktrin oder Fahrplan zu verstehen, sondern eben als Kompass beim Abwägen von Entscheidungsfaktoren – über die Parteigrenzen hinaus.
Bereits seit vielen Jahren habe er den Wunsch verfolgt, die Idee eines menschenwürdigen Liberalismus in einem grösseren Rahmen zusammenzufassen «und dabei Erkenntnisse sowie Erfahrungen in der Staatsrechtslehre, der praktischen Politik und in humanitären Organisationen einfliessen zu lassen. Die liberale Ideenwelt hat mich seit den 1970er-Jahren fasziniert und verfolgt», schreibt Rhinow in seinem Vorwort. Die Frage von Moderator und Geschichtsprofessor Georg Kreis, wieso es gerade jetzt zu diesem Buch gekommen sei, beantwortet Rhinow mit der zufälligen Verkettung des Auftauchens der diversen Freiheitsströmungen während der Pandemie und dem Nachdenken über das Verhältnis der FDP zum Umweltschutz – Stichwort Ökoliberalismus – in einem früheren Aufsatz. Bereits im bz-Interview im vergangenen Dezember vertrat Rhinow die Ansicht, dass die Pandemie den Liberalismus eher befördern als ihm schaden wird:
«Nach einer notwendigen Phase der Einschränkungen wird vielen bewusst, wie wichtig ihnen die Freiheit ist. Und wie sehr alle Menschen ein Recht auf Ausübung ihrer Freiheit haben. Gewisse Liberale müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass der Staat die Freiheit nicht nur beschränken kann, sondern auch zu schützen und zu fördern hat.»
Dass der Baselbieter alt Ständrat neben seinem wachen Geist und politischen Sensorium auch nichts von seinem gesellschaftlichen Ansehen verloren hat, beweist der Grossaufmarsch an diesem Dienstagabend in der Kantonsbibliothek in Liestal. Weit über 100 Gäste sind der Einladung gefolgt, «volles Haus» verkündet freudig Gastgeberin und Kantonsbibliothekarin Susanne Wäfler. Den imposanten Aufmarsch von politischen Würdenträgerinnen und -trägern führen die Baselbieter Ständerätin Maya Graf, ihr Vorgänger Claude Janiak, Erziehungsdirektorin Monica Gschwind, Finanzdirektor Toni Lauber sowie Nationalrat Eric Nussbaumer an.