Ein Liberalismus der Menschenfreundlichkeit

journal21.ch, Rezension 10.2.2022

Mit dem Befund der Vieldeutigkeit dessen, was unter «Liberalismus» und «liberal» verstanden werden kann, eröffnet René Rhinow sein «Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus». Wie der Untertitel bezeichnet die Hauptüberschrift des Buches die entscheidenden Orientierungspunkte der Untersuchung – Freiheit in der Demokratie. 

Was also heisst «Liberalismus», wenn er – erstens – sehr verbindlich auf die Idee der gleichen Menschenrechte aller und – zweitens – auf das Problem bezogen ist, wie individuelle Selbstbestimmung im demokratischen Staatswesen gut und gerecht – «menschenwürdig» eben – verwirklicht werden kann?

Die politische Philosophie des Liberalismus kennt Väter, Grossväter, einige etwas zweifelhafte Urgrossväter; und auch die eine oder andere Mutter. Dem entsprechend sind viele, meistens durch die für geistige Fortpflanzung typischen Methoden der Gedankenrekombination entstandene, unterschiedlich verwandte Kinderscharen zu beobachten. Um die bunte Bande mit Eigennamen zu markieren, will ich ein paar nennen: Bei den Grossvätern finden sich Gestalten wie John Locke, Adam Smith und Immanuel Kant als die überragenden Gründerfiguren der ganzen Bewegung. Ein Urgrossvater mit ambivalenter Ideenlehre und Wirkungsgeschichte ist Thomas Hobbes. Zu den Vätern diversester Familienverzweigungen (vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart) gehören ältere Herren wie Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Benjamin Constant und jüngere wie Isaiah Berlin, Friederich von Hayek, Milton Friedman; aber auch Richard Rorty, Ralf Dahrendorf, sowie die Gruppe der von mir besonders geschätzten bundesrepublikanischen «Ritter-Schüler».

Hinsichtlich der Mütter kommen jedenfalls Namen wie derjenige der grimmigen Ayn Rand, der der unbestechlichen Hannah Arendt oder der sozialliberalen Martha Nussbaum in den Sinn. Mit diesen Listen verbindet sich zweierlei. Erstens gibt es so etwas wie eine, das Ganze verbindende, liberale Familientradition und -ähnlichkeit. Doch zweitens existiert weder eine exakte «Thronfolge», noch ein legitimes «Zivilstandsamt» oder eine zuständige «Passbehörde», die geneologisch verbindliche Identitätsausweise ausstellen dürften. Liberale sind eine Spezies, die sich präzisen Taxonomien nicht fügen.

Keine Ideologie und gefestigtes Lehrgebäude

Wer erwarten würde, dass angesichts dieser allzu vertraut anmutenden Begriffsreihe (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte …) nichts als langweilige Gemeinplätze zum Vorschein kommen, wird aufs Beste – nämlich anregend und argumentativ überzeugend – enttäuscht. Denn Rhinow ist zwar bereit, die Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit liberaler Positionen und Perspektiven anzuerkennen, doch seine Ausrichtung auf die genannten Orientierungslinien sorgt für eine Suche nach der richtigen Balance und Synthese zwischen den diversen, schärfer gesagt: kontroversen «Liberalismen», die die Lektüre für jede Leserin, jeden Leser immer wieder interessant macht.

Der Autor verwendet die Metapher des «Kompasses» und der entsprechenden Pfadsuche, um sein Verfahren und sein liberales Selbstverständnis zu charakterisieren: «Dass Liberale oft nicht dasselbe unter Liberalismus verstehen, ist insofern nicht weiter verwunderlich, als der Liberalismus keine Ideologie, kein gefestigtes Lehrgebäude und keine Anleitung für die Lösung aller Probleme darstellt, sondern eine politische Philosophie, eine offene Denkrichtung, vergleichbar mit einem Kompass, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt.»

Das leuchtet ein, doch die Tatsache der Widersprüchlichkeit im liberalen Definitionsproblem vermag dieser Vorschlag nicht zu heilen. Rhinows sehr elementare Zielvorstellung eröffnet nämlich Politiken und normative Bereitschaften, die diejenigen fast immer bestreiten, die sich selbst als «klassische Liberale» begreifen und als Parteigänger der sogenannten «Wiener Schule» letztlich allein im modernen Staat die zentrale Bedrohung der Freiheit erkennen können. – Eine Zitatmontage bringt die Kontradiktion auf den Punkt:

Im neuesten Informationsbulletin des «Liberalen Institutes» ist an besonders exponierter Stelle Folgendes zu lesen: «… Alle Macht unterliegt dem Missbrauch, und je grösser die Macht, desto grösser die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs. Aus diesem Grund sollten dem Staat nur minimale Befugnisse eingeräumt werden. Allerdings war die Neigung jeder Regierung stets, selbst die minimalen Befugnisse dazu zu nutzen, ihre Zuständigkeiten auszuweiten. Und jede Regierung wird mit Sicherheit grosse Kräfte aufwenden, um noch grössere Vollmachten zu usurpieren …»

Auf den ersten Blick scheint Rhinows liberale Kompasslinie dieser radikalen Staatskritik nicht generell zu widersprechen: «Der Liberalismus hat ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung der persönlichen und kommunikativen Freiheit aller notwendig sind.» Die Gegensätzlich-, ja Unversöhnlichkeit wird freilich klar, wo Rhinows Folgerungen aus seiner Zielvorstellung explizit werden. Etwa im Abschnitt über die «soziale Freiheit». Denn dort wird zweierlei unübersehbar: Erstens, dass die «Freiheit aller» nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für die Schwächsten der Gesellschaft verlangt, und zweitens, dass keineswegs nur staatliche, sondern eben auch nichtstaatlich-gesellschaftliche, also private Akteure freiheitsbedrohende Macht auszuüben imstande sind.

Polemische Kritiker sprechen von «Semisozialismus»

Rhinow bekennt sich zu einem inklusiven, die Unterschiedlichkeit der materiellen Bedingungen berücksichtigenden, republikanischen Freiheitsverständnis: «Der Mensch ist frei, wenn er eine Wahl treffen kann, ohne vom Wohlwollen oder von der Erlaubnis Anderer abzuhängen, und als Gleichgestellter die Macht besitzt, sich gegen eine Einmischung Dritter zur Wehr zu setzen. Diese Freiheit hängt von materiellen und immateriellen Voraussetzungen wie etwa Wohnsitz, Arbeit, Behausung, Mindesteinkommen und Zugang zu Bildung ab.»

Dem entsprechend will er die seit Isaiah Berlin oft zitierte und beinahe kanonisch gewordene Unterscheidung zwischen «negativer» (vor allem gegen die Staatsmacht gerichteter) und «positiver» (der gemeinsamen gesellschaftlichen Ordnung verpflichteter) Freiheit durch das Tertium der «sozialen Freiheit» ersetzen: «Aus der Sicht eines menschenwürdigen Liberalismus ist eine Person frei, soweit sie nicht durch externe soziale Zwänge gehindert ist, nach ihrem eigenen Lebensentwurf zu handeln, und wenn sie über die nötigen sozialen Ressourcen verfügt, die es ihr ermöglichen, von der Freiheit in einem menschenwürdigen Ausmass Gebrauch zu machen.»

Es ist kaum zu bezweifeln, dass ein derartiges Argument von Anhängern des staatskritischen Liberalismus beinahe automatisch mit dem Prädikat «Semisozialismus» oder «Weichsinn» vergolten wird. Das weiss auch Rhinow – und umso entschiedener verweist er auf das geltende eidgenössisch-schweizerische Verfassungsverständnis: «Das Konzept der sozialen Freiheit entspricht einem Verständnis der Freiheit als konstituierendem Element des liberalen Staates, wie es auch der schweizerischen Bundesverfassung zugrunde liegt. Es widerspiegelt sich in der Doppelnatur der Grundrechte (Hervorhebung: GK) als Abwehrrechte und Grundlage staatlicher Schutzpflichten im Sinn objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte.»

Die Diagnose der Zweiseitigkeit der fundamentalen Normen unserer rechtsstaatlich-liberalen, dem Gedanken der freiheitsfunktionalen Gleichheit verpflichteten Demokratie macht unübersehbar, dass hier das Prädikat «liberal» den Sinn hat, den Staat a priori auch auf die Freiheitssicherung materiell unterschiedlich begabter Individuen zu verpflichten. Wobei ihm zugleich zugetraut wird, dabei nicht die richtigen Balancen zu verlieren; nämlich wegen und innerhalb der Form einer pluralistischen Demokratie, die es erlaubt (aber auch fordert), dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte mithilfe der Organisation von politischen Parteien und Interessenvertretungen in Prozessen der Güterabwägung und Kompromissbildung auf Lösungen einigen. Ein Vorgang, der nie ein für allemal abgeschlossen ist, aber stets von neuem und von Fall zu Fall erfolgreich geschieht.

Diesem «Liberalismus der Konkordanz», der sich im Widerstreit und Austragen der Differenzen erneuert und lebendig bleibt, schenkt Rhinow, wo immer nötig, sein besonderes Augenmerk. Vom Konnex zwischen liberaler Geisteshaltung, rechtsstaatlicher Machtbändigung und gelingender Demokratie handelt sein Plädoyer auch noch dann, wenn es um die politische Integration der Bürger und Bürgerinnen in der postmigrantischen Gesellschaft der Gegenwart geht.

Wirtschaftsliberalismus und Verfassungsliberalismus

Mit diesen Bemerkungen ist der Gedankenreichtum von Rhinows Buch einigermassen angedeutet, aber bei weitem nicht ausgeschöpft. Beeindruckend umfassend ist beispielsweise der Anmerkungsapparat und die dazu konsultierte Literatur; deutlich wird die breite Tradition der von Rhinow vertretenen Liberalismusidee, die viele zeitgenössische Zuschüsse besitzt. So wird etwa auf die Theorie der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum verwiesen, wenn es darum geht, genauer zu erläutern, wie der prinzipiell von allen Liberalen bejahte Grundsatz der «Chancengleichheit» näher zu verstehen ist.

Freilich ist an dieser Stelle auch ein (wohl nicht zufälliges) Manko zu notieren. Gänzlich ausgespart wird vom Autor die Auseinandersetzung mit der von den Vertretern des Wirtschaftsliberalismus hoch geschätzten politischen Ökonomie in der Nachfolge Josef A. Schumpeters oder Anthony Downs’. Ihre Analysen behandeln nämlich genau die für Sozialliberale heiklen Punkte: das Eigeninteresse des politischen Personals in der fortgeschrittenen Berufsparlamentarier- und Wohlfahrtsstaatsdemokratie der Gegenwart und der daraus resultierende Inflationstrend öffentlicher Budgets – Dinge, die von wirtschaftsliberaler Seite meist unter dem Stichwort des «beängstigenden Wachstums der Staatsquote» abgehandelt werden.

Es sind solcherart empirisch tragfähige Befunde, die die – nach eigener Auffassung – «klassischen» Liberalen ins Feld führen, wenn sie – nicht selten sehr gereizt – dem auf die Realisierung der Menschenwürde zielenden Liberalismus Rhinow’scher Prägung „Semisozialismus» vorwerfen und ihm ökonomisch naive «Gutmenschlichkeit» diagnostizieren.

Mit der Erinnerung an diese Bruchlinie gerät man zurück zum Beginn: zur turbulenten Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit im Verwandtschaftsraum der liberalen Familie. Und man kommt nicht darum herum, sich zu fragen, ob die mittlerweile herrschenden Antagonismen nicht derart heftig geworden sind, dass – metaphorisch gesprochen – statt von Familienstreitigkeiten besser von Stammesfehden zu reden wäre.

Einen Vorschlag zur Güte möchte ich immerhin riskieren; festzumachen an der Gegenüberstellung von Partei- und Verfassungsliberalismus.

Unter Bedingungen des Parteienwettbewerbs in der pluralistischen Demokratie muss eine liberale Partei heute vor allem ihr Profil, ihr Alleinstellungsmerkmal schärfen; und zwar nicht zuletzt im Gegensatz zur sozialdemokratischen Anspruchslinie, die nach der sozialistischen Abkehr vom Marxismus (nicht nur, aber auch) sozialliberale Postulate verfolgt. Darum ist für den Parteienliberalismus die Annäherung an markt- und wirtschaftsliberale Einseitigkeiten im Grunde unausweichlich.

Der von Rhinow eindrucksvoll entfaltete Verfassungsliberalismus hingegen ist von Anfang an auf derjenigen basalen Ebene angesiedelt, die so etwas wie die pluralistische Parteienkonkurrenz überhaupt erst ermöglicht. Er formuliert damit nichts anderes als die Essenz – die zentralen Werte und Institutionen – dessen, was, immer noch, den sogenannten «Westen» ausmacht und nicht nur in unseren Tagen mit allem Nachdruck zu verteidigen ist.

Freiheit ist mit Menschenwürde verbunden

NZZ, Gastkommentar, 9.2.2022

Freiheit ist Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Wer den Liberalismus ernst nimmt, versteht Freiheit im Kontext, also überall, wo sich Freiheitsbedürfnisse manifestieren.

Die Pandemie hat auch ihre guten Seiten: Selten wurde in den letzten Jahrzehnten so intensiv, aber auch mit unterschiedlichen Vorstellungen und Intentionen um eine gesellschaftliche und staatsrechtliche Grundkategorie gerungen wie derzeit um die Freiheit.

Freiheit beanspruchen die Gegner einschränkender Massnahmen des Staates von Gewerbetreibenden über Impfskeptiker bis zu Partygängern. Aber auch an Covid Erkrankte sowie die grosse Mehrheit des Volkes machen den Schutz ihrer Freiheit geltend. Sie wollen in ihrer Gesundheit – als Voraussetzung eines freien Lebens – geschützt und nicht angesteckt werden.

Freiheit bedeutet Selbstbestimmung, das heisst die reelle Chance eines Menschen, sich frei betätigen und entfalten zu können. Freiheit steht im Zentrum des Liberalismus, und zwar eine Freiheit, die auch die Freiheit der anderen achtet. Der Liberalismus ist durch eine offene Denkrichtung geprägt, einem Kompass vergleichbar, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Den einzig wahren Liberalismus gibt es nicht. Aber es finden sich Eckpfeiler, die zur Essenz des Liberalismus gehören und immer wieder neu zu diskutieren sind.

Freiheit auch der anderen

Die Freiheit des Liberalismus ist untrennbar verbunden mit der Würde, die jedem Menschen zusteht. Der wohl bedeutendste Philosoph der europäischen Aufklärung, Immanuel Kant, bezeichnete in seiner Rechtslehre (1784) Freiheit als das eine Menschenrecht, das in der inneren Freiheit jedes Menschen, in seiner Würde begründet ist. Sie verbietet, einen anderen Menschen bloss als Mittel zu eigenen Zwecken zu gebrauchen, ihn zu instrumentalisieren und zum blossen Objekt zu degradieren.

Eine Vielzahl moderner Verfassungen, so auch unsere Bundesverfassung, erklären Schutz und Achtung dieser Würde als vorrangiges Staatsziel. Die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum postuliert, dass Menschen nicht nur eine Würde haben, sondern dass ihnen auch reelle Möglichkeiten offenstehen müssen, ein lebenswertes Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Für einen Liberalismus, in dessen Zentrum ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde steht, bedeutet Freiheit mehr als die Abwesenheit von äusserem Zwang. Zu ihr gehört auch die Sorge, dass Freie von ihrer Freiheit in der Lebenswirklichkeit in Würde Gebrauch machen können.

Wenn der Kristallisationspunkt des Liberalismus die Freiheit jedes Menschen ist, so stellt sich die Frage nach dem Menschenbild. Haben viele Liberale nicht vor allem den tätigen und vernunftgeleiteten Menschen vor Augen, der in der Lage ist, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten?

Doch Menschenwürde und Freiheit stehen auch Schwächeren zu, wie Angehörigen von Minderheiten, Kranken, Ausländern, Randständigen, derzeit etwa auch Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach Asyl oder nach einem besseren Leben. Welches ist ihr Platz in der liberalen Ideenwelt? Ich befürworte einen «mitfühlenden» Liberalismus im Sinne des grossen liberalen Vordenkers John Stuart Mill, um anzudeuten, dass liberale Antworten auch für das Schicksal benachteiligter Menschen gesucht werden müssen.

Was wenig bekannt ist: Bereits Adam Smith, der Begründer der Nationalökonomie, entwickelte eine Theorie des Mitgefühls als Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, mit Empathie und Sozialkompetenz auf sein Gegenüber zu reagieren, sich selber nicht als individuelles Atom, sondern als soziales Wesen zu begreifen. Eine offene Wahrnehmung für die Lebenssituation anderer, gerade von schwächeren und notleidenden Menschen in ihrer Furcht, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, erkennen zu können, wie es um ihre Würde und deren Gefährdung tatsächlich steht. Mitgefühl wird in diesem Zusammenhang verstanden als das Vermögen, komplexe soziale Situationen von Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie verschiedener Kulturen und Werthaltungen wahrzunehmen, auch um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.

Liberale Binnenkonflikte

Freiheit ist kein abstraktes, von der Wirklichkeit abgehobenes Prinzip. Sie kann nicht losgelöst vom real existierenden Kontext erfasst und verstanden werden. Sie ist immer eingebettet in einem Sozialverbund, sei es im Familien- oder Freundeskreis, im Verein oder im Geschäftsleben, vor allem auch im Staat. Freie individuelle Entfaltung bedarf existenzieller, positiver Voraussetzungen, für die auch der Staat Verantwortung trägt. Der Mensch ist auf andere und auf staatliche oder gesellschaftliche Institutionen angewiesen, wenn er seine Lebenschancen wahrnehmen will.

Vom neuen deutschen Justizminister Marco Buschmann (FDP) stammt die treffende Umschreibung: «Freiheit ist eine Leitidee für das Zusammenleben von Menschen. Danach sollen wir uns gegenseitig möglichst viel Individualität und Selbstverwirklichung zubilligen.» Freiheit misst sich auch an der Freiheit anderer. Oder in den Worten von Pedro Lenz: Freiheit darf nicht «von der Brüderlichkeit und von der Gleichheit abgekoppelt und damit ihres Sinns beraubt» werden.

Stehen sich wie in der gegenwärtigen Pandemie unterschiedliche Freiheitsinteressen gegenüber, geht es in einer liberalen lebensweltlichen Praxis um eine Wert- und Interessenabwägung zwischen unterschiedlichen Freiheitsbedürfnissen. Wie sind Freiheitsinteressen zu gewichten, welche sollen vorgehen oder in Einklang gebracht werden, beispielsweise Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen, die Anliegen gegenwärtiger und diejenigen künftiger Generationen, der Eigentumsschutz und raumplanerische Interessen?

Aus liberaler Sicht prävalieren grundsätzlich jene Freiheitsinteressen, welche die Menschenwürde stärker tangieren. Man kann auch von einem Vorrang qualitativer vor rein quantitativer Freiheit sprechen. Wesentlich erscheint die Frage, «welche Freiheit» zu schützen ist, also welche Qualität eine bestimmte Option aufweist. Diese Interessenabwägung ist ein elementares Kennzeichen des Liberalismus, weil es immer gilt, die Freiheit aller ernst zu nehmen und nach deren optimalen Verwirklichungsbedingungen zu suchen.

Die Bewältigung liberaler Binnenkonflikte kann von der modernen Verfassungslehre profitieren. Nach dieser sollen unterschiedliche Freiheitsbedürfnisse einander durch Konkordanz und nach Massgabe des Verhältnismässigkeitsprinzips zugeordnet werden, um Freiheiten aller zu optimieren. Es ist dem demokratischen Rechtsstaat übertragen, diese Aufgabe der pluralen Freiheitsjustierung in politischen und gerichtlichen Prozessen vorzunehmen, vor allem auf der Basis und in den Schranken der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte.

Freiheit in der Demokratie

Staatsrechtliche Freiheit wird traditionell in einen Bezug gesetzt zum Staat, in der Regel zum freiheitsbedrohenden Staat. Die Entwicklung liberaler Ideen rieb und reibt sich bis heute oft an diesem imaginären Machtapparat. Ist der Staat mit seiner Macht an sich böse (Jacob Burckhardt) oder Hort der Sittlichkeit (Hegel)?

Freiheit verlangt in der rechtsstaatlichen Demokratie jedenfalls mehr als Abwehr staatlicher Eingriffe. Dem Verfassungsstaat ist es auch aufgegeben, die Freiheit zu schützen, vor allem im Rahmen der Grundrechte der Verfassung. Das entbindet Liberale nicht von einer kritischen Überprüfung staatlichen Handelns auf unangemessene Eingriffe in Freiheitspositionen. Dies ist auch Aufgabe demokratisch legitimierter, unabhängiger Instanzen. Freiheit in der Demokratie ist zudem aktive, politische Freiheit als Mitbestimmung bei den Geschicken des Gemeinwesens. Diese ist konstituierend für eine rechtsstaatliche Demokratie.

Freiheit ist Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Viele Tenöre des Liberalismus, oft sind es Ökonomen, beschränken ihre Überlegungen auf die Wirtschaft und blenden weitere Freiheitsbedürfnisse in der Gesellschaft aus. So wichtig der Wirtschaftsliberalismus ist, stellt er nur eines der Standbeine des Liberalismus dar. Wer den Liberalismus ernst nimmt, versteht Freiheit im Kontext, also überall, wo sich Freiheitsbedürfnisse manifestieren.

Liberaler Freiheitsgebrauch ist geprägt von Verantwortung. Diese wird in erster Linie verstanden als Selbstverantwortung im Rahmen des Menschenmöglichen. Doch muss die Mitverantwortung essenziell dazutreten. Sie äussert sich in mehreren Dimensionen: im erwähnten mitfühlenden Liberalismus, im Einbezug der sozialen Voraussetzungen und der Bedingungen autonomer Freiheitsausübung sowie im umweltbewussten und nachhaltigen Liberalismus.

Wenn das von Liberalen hochgehaltene Junktim von Freiheit und Verantwortung sinnhaft sein soll, dann muss es auch die Verantwortung gegenüber Natur und Mitwelt mit einschliessen. Zur Mitwelt des Menschen gehören nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch das ihn umgebende ökologische Universum.

Ein Kompass im Irrgarten des Liberalismus

Luzerner Zeitung, Bojan Stula, 1.2.2022

Zahlreiche Gäste und Prominenz feiern in Liestal die Vernissage von «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus».

Untätigkeit und Denkfaulheit kann man René Rhinow bestimmt nicht vorwerfen. Selbst in seinem 80. Lebensjahr nicht. Knappe drei Jahre nach den autobiografischen Aufzeichnungen in «Alles mit Mass» legt der Baselbieter alt FDP-Ständerat und emeritierte Staatsrechtsprofessor ein Übersichtswerk zum Freiheitsbegriff, dem Liberalismus und der beidseitigen Verknüpfung vor. Rhinows neues Buch «Freiheit in der Demokratie» feierte am Dienstagabend Vernissage in der Baselbieter Kantonsbibliothek in Liestal. Eine zweite öffentliche Präsentation folgt am Donnerstag in Zürich.

Das 232 Seite umfassende, im Hier und Jetzt-Verlag erschienene Werk trägt den Untertitel «Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus» und ist genau das: ein angesichts in Erregung auseinander driftender Gesellschaften wohltuender Appell an den gesunden Menschenverstand. Allerdings ebenso Ideengeschichte und Wegweiser durch den Dschungel der Liberalismus-Definitionen.

Was in Ländern wie den USA und Frankreich inzwischen als Schimpfwort gilt, ist in der Schweiz zumindest doppeldeutig. In einer Strassenumfrage würde es wohl niemandem gelingen, Liberalismus mit der Suche nach Wegen zu definieren, «wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können». Eine derartige Auffassung bezeichnet Rhinow als gemeinsamen Nenner aller Auslegungen.

Allerdings sind genau diese Schlagwörter «Freiheit» und «Selbstverwirklichung» hinterhältig und voller Tücke. Rhinow zitiert die Basler Philosophin Annemarie Pieper, «wie die Vorstellung eines unbeschränkten Rechts auf Selbstverwirklichung nicht unerheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen einander diskriminieren und die Natur ausbeuten». Möglicherweise lasse sich sogar die Wut von frustrierten und vernachlässigten Menschen in unerfüllten Erwartungen auf schrankenlose Selbstverwirklichung verorten. Populisten hätten dann leichtes Spiel, gegen die vermeintlichen Urheber der Freiheitsbeschränkung zu hetzten: gegen gesellschaftliche Eliten und eine, wie Rhinow sie nennt, «konstruierte politische Klasse». Freiheit werde dann zum agitatorischen Kampfbegriff für die Stimmungsmache gegen legale Anordnungen und Fremde.

Der Baselbieter Staatsrechtler lässt keinen Zweifel daran, wo die Grenzen des Liberalismus liegen, wenn man diesen menschenwürdig in die Tat umsetzen will. Bestimmt hat Rhinow auch die Impfdiskussion zu Coronazeiten im Kopf, wenn er schreibt:

«Liberale fragen, wie es um die Würde von Schutzbedürftigen und von Schwächeren in ihrer konkreten Situation steht. Freiheit gestattet nicht, Anderen Nachteile zuzufügen, sie zu schädigen oder an Leib und Leben zu gefährden. Denn dadurch wird deren Freiheit beeinträchtigt.»

Als liberale Grundwerte nennt Rhinow Mitmenschlichkeit, Demut, Respekt, Toleranz und Fairness. Diese gäben wie ein Kompass die Richtung hin zu einer authentisch liberalen Gesellschaft vor, liessen aber unterschiedliche Wege offen. Während der Nationalstaat das Nationale in den Hintergrund zu rücken habe und die Verfassung in den Vordergrund, um seine unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu integrieren, müssten Liberale den Zugang zu abgehängten Schichten suchen und in deren Sprache ernsthaft und vorurteilsfrei über deren Probleme diskutieren.

Schliesslich warnt Rhinow vor falschen Grunderwartungen an den politischen Liberalismus:

«Es kann dem Liberalismus nicht um eine Angleichung der Lebensumstände gehen, sondern um die Annäherung an eine Gleichheit der Startbedingungen, um eine Chancengleichheit. Auch deshalb sorgen sich Liberale um eine entsprechende Bildung und Ausbildung aller.»

Im gleichen Atemzug betont der Autor die Bedeutung der Denkanstösse, welche die Kultur einzubringen vermag: «Die Leistungen der Kultur für den Grundkonsens einer offenen, liberalen und vielfältigen Gesellschaft können kaum überschätzt werden.»

Grossaufmarsch an der Vernissage in Liestal

Alles schön, richtig und wichtig, findet die Baselbieter FDP-Politikerin Saskia Schenker an der die Liestaler Vernissage abschliessenden Podiumsdiskussion. Doch wenn im politischen Alltag rasche Meinungen und Entscheide gefragt seien, dann sei die Gefahr gross, dass die eigene liberale Grundhaltung auf der Strecke bleibe. Das führt die ehemalige FDP-Kantonalpräsidentin zur interessanten These, dass gerade der Anspruch auf einen stets sich hinterfragenden, reflektierenden Liberalismus den liberalen Staat schwäche, da in der medial befeuerten Polarisierung die leise, abwägende Position kaum mehr gehört werde.

Die junge Berner FDP-Politikerin und Aktivistin Laura Zimmermann, Co-Präsidentin der Operation Libero, kritisierte ebenfalls pointiert die Kluft zwischen liberalem Denken und Handeln, was sie insbesondere «gewissen älteren Herren» in ihrer Partei zuschrieb. Die Operation Libero sei genau aus der Frustration heraus über solcherlei Widersprüche entstanden. Bevor aber die Podiumsdiskussion allzu sehr den Charakter einer FDP-internen Richtungsklausur annahm, zog der Autor die Reissleine: «Ich habe kein Buch über Parteiprogrammatik geschrieben», stellte Rhinow klar. Vielmehr sei «Freiheit in der Demokratie» eine Anregung zur Diskussion, welche die Grundthese vertrete, den Liberalismus nicht als politische Doktrin oder Fahrplan zu verstehen, sondern eben als Kompass beim Abwägen von Entscheidungsfaktoren – über die Parteigrenzen hinaus.

Bereits seit vielen Jahren habe er den Wunsch verfolgt, die Idee eines menschenwürdigen Liberalismus in einem grösseren Rahmen zusammenzufassen «und dabei Erkenntnisse sowie Erfahrungen in der Staatsrechtslehre, der praktischen Politik und in humanitären Organisationen einfliessen zu lassen. Die liberale Ideenwelt hat mich seit den 1970er-Jahren fasziniert und verfolgt», schreibt Rhinow in seinem Vorwort. Die Frage von Moderator und Geschichtsprofessor Georg Kreis, wieso es gerade jetzt zu diesem Buch gekommen sei, beantwortet Rhinow mit der zufälligen Verkettung des Auftauchens der diversen Freiheitsströmungen während der Pandemie und dem Nachdenken über das Verhältnis der FDP zum Umweltschutz – Stichwort Ökoliberalismus – in einem früheren Aufsatz. Bereits im bz-Interview im vergangenen Dezember vertrat Rhinow die Ansicht, dass die Pandemie den Liberalismus eher befördern als ihm schaden wird:

«Nach einer notwendigen Phase der Einschränkungen wird vielen bewusst, wie wichtig ihnen die Freiheit ist. Und wie sehr alle Menschen ein Recht auf Ausübung ihrer Freiheit haben. Gewisse Liberale müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass der Staat die Freiheit nicht nur beschränken kann, sondern auch zu schützen und zu fördern hat.»

Dass der Baselbieter alt Ständrat neben seinem wachen Geist und politischen Sensorium auch nichts von seinem gesellschaftlichen Ansehen verloren hat, beweist der Grossaufmarsch an diesem Dienstagabend in der Kantonsbibliothek in Liestal. Weit über 100 Gäste sind der Einladung gefolgt, «volles Haus» verkündet freudig Gastgeberin und Kantonsbibliothekarin Susanne Wäfler. Den imposanten Aufmarsch von politischen Würdenträgerinnen und -trägern führen die Baselbieter Ständerätin Maya Graf, ihr Vorgänger Claude Janiak, Erziehungsdirektorin Monica Gschwind, Finanzdirektor Toni Lauber sowie Nationalrat Eric Nussbaumer an.

Liberale verlangen, dass alle von ihrer Freiheit Gebrauch machen können

Swissbanking, Silvan Lipp, 29.3.2022

Was bedeutet Freiheit im 21. Jahrhundert? Wie hat die Corona-Pandemie den Blick auf die Freiheit verändert? Ein Gespräch mit René Rhinow über den Begriff Freiheit und seine Bedeutung. Wer den Liberalismus ernst nehme, so Rhinow, verstehe Freiheit nicht nur im restriktiven Sinne als Abwesenheit von äusseren Zwängen, sondern schliesse positive Massnahmen ein, um die Voraussetzungen für ein Leben in Würde zu ermöglichen und Gleichheit der Startchancen herzustellen.

Kaum ein Begriff hat in der Pandemie so stark bewegt wie die Freiheit. «Ach, die Freiheit. Die Arme. Sie muss derzeit für alles Mögliche und Unmögliche herhalten. Von allen Seiten wird sie belagert. Von rechts, von links, von oben, von unten», schrieb Philosoph und Moderator Yves Bossart jüngst. Massnahmenkritiker forderten die Freiheit zurück, also ein Ende der vom Staat verhängten einschränkenden Massnahmen. Massnahmenbefürworter forderten Freiheit ein – durch staatliche Massnahmen zum Schutz und als Freiheit vor der Übertragung des Virus. René Rhinow, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Basel und ehemaliger Ständerat (FDP), hat sich in seinem im Frühjahr 2022 erschienenen Buch «Freiheit in der Demokratie» umfassend mit den unterschiedlichen Freiheitsbedürfnissen und der Frage eines zeitgemässen Liberalismus auseinandergesetzt. Mit der Interview-Serie «Polittrends auf der Spur» beleuchtet die Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) mit Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft aktuelle Entwicklungen, die Bundesbern und unsere Demokratie bewegen. In dieser Spurenlese gehen wir den Thesen von René Rhinow über einen zeitgemässen Liberalismus näher nach.

Herr Rhinow, der Staat hat zur Bekämpfung der Coronapandemie Massnahmen ergriffen, die einschneidend waren. Maskenpflicht, Schliessung von Läden oder Zertifikatspflicht sind einige solche Beispiele. Wie beurteilen Sie die Massnahmen des Bundesrates aus einer liberalen Sicht?

René Rhinow: Der Bundesrat musste eine Abwägung unterschiedlicher Freiheitsbedürfnisse vornehmen. Einerseits wurden Freiheitsrechte wie die persönliche Freiheit oder die Wirtschaftsfreiheit zum Teil massiv eingeschränkt. Anderseits galt es, das elementare Recht auf Leben und Gesundheit vieler Menschen zu schützen. Zudem entspricht es einem legitimen öffentlichen Interesse, die Funktionsweise des Gesundheitswesens zu gewährleisten. Ob dem Bundesrat diese heikle Abwägung gelungen ist, kann erst im Nachhinein beurteilt werden. Aber im Grundsatz sind solche Abwägungsprozesse aus liberaler Sicht nicht zu beanstanden, ja oft geboten.

Hat sich das Verständnis darüber, was Freiheit heute bedeutet, aufgrund der Coronapandemie verändert? Wenn ja, wie?

Jedenfalls hat die Diskussion über die Freiheit und ihre Bedeutung zugenommen, was an sich erfreulich ist. Liberale verlangen, dass alle von ihrer Freiheit Gebrauch machen können. Ich hoffe, dass vermehrt ins Bewusstsein geraten ist, dass Freiheit nicht nur denjenigen zusteht, die sie für sich reklamieren, sondern auch anderen, für die dem Gemeinwesen eine Schutzpflicht obliegt. Deshalb findet jede Freiheit ihre Grenzen an der Freiheit Anderer.

Sie zitieren in Ihrem Buch den Philosophen Isaiah Berlin: «Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer.» Warum haben Sie dieses Zitat gewählt?

Weil ein übermässiger Freiheitsgebrauch oft zulasten von schwächeren Menschen geht. Das Zitat von Berlin bringt das schön zum Ausdruck. Freiheit und Freiheitsrechte bewähren sich beim Schutz von Minderheiten!

Vertiefen wir diese Freiheit in der Gesellschaft. Sie haben kürzlich in der NZZ geschrieben: «Freie individuelle Entfaltung bedarf existenzieller, positiver Voraussetzungen, für die auch der Staat Verantwortung trägt. Der Mensch ist auf andere und auf staatliche oder gesellschaftliche Institutionen angewiesen, wenn er seine Lebenschancen wahrnehmen will.» Wo stehen wir in der Schweiz heute? Was muss zusätzlich oder anders erfüllt sein, damit wir als Schweiz von uns sagen dürfen, wir lebten in einer freien Gesellschaft?

Im Vergleich mit anderen Staaten und Gesellschaften steht die Schweiz sicher gut da. Aber Freiheit ist nie endgültig gesichert. Sie bedarf immer wieder der Prüfung, ob angesichts der sozioökonomischen Veränderungen und des staatlichen Wandels die Voraussetzungen zum Freiheitsgebrauch für alle Menschen gegeben sind.

Der Liberale betrachtet den Menschen. Sie sprechen in ihrem Buch von der «Menschenwürde». Jeder Mensch sollte dieselben Rechte und Pflichten haben, unabhängig von Nationalität und Herkunft. Doch Ausländerinnen und Ausländer haben in der Schweiz, etwa in Bezug auf demokratische Mitwirkung, nicht dieselben Rechte wie Schweizerinnen und Schweizer. Was sagen Sie als Liberaler dazu?

Die Freiheit des Liberalismus umfasst auch die politische Freiheit. Ich bedaure, dass allen Ausländerinnen und Ausländern die aktive demokratische Mitwirkung untersagt ist. Und dass es der Schweiz so schwerfällt, darüber vorurteilsfrei zu diskutieren. Die Demokratie geht von der Vorstellung aus, dass alle, die vom staatlichen Recht betroffen sind, auch über dieses Recht befinden können. Dass also eine Annäherung an eine Identität von Regierenden und Regierten anzustreben ist. Ich sehe grundsätzlich zwei (kombinierbare) Wege, diesem Ziel näher zu kommen: entweder durch erleichterte Einbürgerungen oder durch eine schrittweise Ausdehnung der politischen Rechte.

Kommen wir zur Freiheit in der Wirtschaft. Der Staat hat im Zuge der Pandemie stark ins Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Die Post-Corona-Zeit könnte einen Neustart bedeuten. Wie gelangen wir zu einem Rahmen, der es erlaubt, dass wir wirklich von «Wirtschaftsfreiheit» in der Schweiz sprechen können?

Auch hier meine ich, dass im Ländervergleich die Schweiz nicht schlecht dasteht. Ich bin nicht in der Lage, in wenigen Sätzen ein Programm zur Förderung der Wirtschaftsfreiheit zu entwickeln. Zudem stellen sich schwierige Fragen, weil die Freiheitsbedürfnisse in der Wirtschaft unterschiedlich sind und dem Staat verschiedene Funktionen zukommen wie etwa: Gewährleistung der Infrastruktur, der «Grundausrüstung» und der Gesundheitsversorgung, Schutz eines funktionierenden Wettbewerbs, Förderung anderer Freiheitsanliegen zum Schutz der Menschenwürde aller, und so weiter. Letztlich steht und fällt (auch) die Wirtschafsfreiheit mit der Bereitschaft aller Betroffenen, auch der Unternehmer, Freiheit «zu wollen» und ihre Risiken zu ertragen.

Wenn wir die Dimension der Umwelt hinzunehmen, gelangen wir zu «liberalen Binnenkonflikten», wie Sie sagen. Was verstehen Sie darunter? Und wie können wir sie lösen?

Liberale Binnenkonflikte gehen von der Einsicht aus, dass es in der Lebenswirklichkeit oft darum geht, verschiedene Freiheitsbedürfnisse zu anerkennen und dann gegeneinander abzuwägen. Davon war im Zusammenhang mit der Coronapandemie bereits die Rede. Es geht nicht nur darum, Freiheit gegenüber dem Staat abzuschirmen, sondern die Freiheit aller, auch der künftigen Generationen, ernst zu nehmen und zu schützen. Hier hat der demokratische Staat oft eine Schutzfunktion und eine «Schiedsrichterrolle» wahrzunehmen, sei es durch demokratische Prozesse, sei es durch Gerichtsverfahren. Die primäre Legitimation des rechtsstaatlich-demokratischen Gemeinwesens liegt im Schutz der Freiheit aller.

Fast jede Partei schreibt sich die «Freiheit» auf ihre Fahnen. Wenn sie einen Wunsch an diese Parteien haben, welcher wäre das?

Dass sie sich konkret damit auseinandersetzen, was Freiheit in der heutigen Welt bedeutet, wessen Freiheit auf welche Weise zu fördern und gegenüber welchen Gefahren und Mächten Freiheit zu schützen ist… Also die oft plakative Anrufung der Freiheit herunterzubrechen auf die Welt, in der wir leben. Das ist anspruchsvoll und entzieht sich einem Schwarzweiss-Denken.

Vordenker der Ökoliberalen

Luzerner Zeitung, Bojan Stula, 13.05.2019

Der Baselbieter alt FDP-Ständerat René Rhinow postuliert in seinen Memoiren die Wegleitung für ein liberales Land – und verteidigt die Öko-Wende von Petra Gössi.

Etiketten mag er nicht. «Das liberale Gewissen der Schweiz» will er nicht sein. Er sei auch kein «Angry Old Man». Am allerwenigsten sollen seine Lebenserinnerungen, von einer Autobiografie mag er nicht sprechen, eine Abrechnung mit der aktuellen Schweizer Politik sein. «Ich bin kein Mensch, der verzweifelt», sagt der 76-jährige René Rhinow zu seinen soeben erschienenen Memoiren. «Ich wollte darin bloss darlegen, was mir wichtig war und ist.» Dort, wo er auf den 330 Seiten die Wahl zwischen einer sanften und harten Auslegung hatte, habe er sich für «Milde» entschieden.

Trotzdem liest sich «Alles mit Mass. Gedanken und Geschichten aus dem Leben eines Grenzgängers» wie der lupenreine Gegenentwurf zum vorherrschenden politischen Duktus. Vernünftige Lösungen und Positionen nur deshalb abzulehnen, weil sie aus der falschen Partei kommen, sind ihm ebenso verhasst wie Initiativen und Vorstösse aus blosser Effekthascherei oder parteitaktischen Überlegungen. Eingehend setzt sich der alt Ständerats­präsident und Ex-Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes mit dem Wesen und der Bedeutung eines wahrlich liberalen Staats, einer echten freiheitlichen Politik und einer authentisch liberalen FDP auseinander. All dem liegt sein gelebtes Grenzgängertum zwischen politischer Praxis und staatsrechtlicher Theorie zugrunde.

Persönliches Gegenprogramm zum linken Ökosozialismus

Dabei erweisen sich vor Jahrzehnten postulierte Grund­sätze als unerhört modern. Seinen ersten Wahlkampf für den Ständerat 1987 führte der Baselbieter Staatsrechtsprofessor unter dem Stichwort «Öko­liberalismus», seinem persönlichen Gegenprogramm zum linken Ökosozialismus. Wenn sich die aktuelle FDP-Präsidentin Petra Gössi darauf beruft, ihre Partei trage den Umweltschutz in der DNA, dann müsste zum Beweis Rhinows Name vor allen anderen kommen. Entsprechend nimmt Rhinow Gössis sonst vielgescholtene ökologische Kehrtwende ernst und knüpft daran «durchaus gewisse Hoffnungen», dass das Gedankengut des Ökoliberalismus in der FDP wieder Fuss fasst. Und überhaupt: Was spreche dagegen, wenn Petra Gössi angesichts der Schülerdemos umdenkt? «Politiker dürfen dazulernen», verteidigt Rhinow die FDP-Nationalrätin.

Nur um sogleich anzufügen, dass auf Bekenntnisse Taten folgen müssten. So würde es den Tesla-Fahrer «zutiefst enttäuschen, sollte die FDP die Einführung einer budgetneutralen CO2-Abgabe verhindern».Dies führt direkt zum Kernpunkt von Rhinows liberalem Verständnis: «Echte Freiheit kann nur dort bestehen, wo mein Verhalten zu keinen Nachteilen oder Lasten für Mitmenschen, auch der Menschen künftiger Generationen mit ihren legitimen Freiheits­bedürfnissen (…) führt.» Es gelte, jenseits des Parteien­gezerres stets zwischen allen Argumenten abzuwägen. Lösungen im liberalen Sinne könnten nie nur richtig oder nur falsch sein. Auch müsse beim Abwägen des Freiheitsbedürfnisses von heutiger Generation und künftiger Generation nicht immer die künftige Generation den Vorrang erhalten. Aber zu oft würden Entscheidungen allein aus kurzfristiger Optik gefällt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob künftigen Generationen dieselben intakten Grundlagen hinterlassen werden, «damit auch unsere Enkel ihre eigenen Freiheitsrechte wahrnehmen können». So bedauert er, dass sich die FDP keine grundlegenden Gedanken darüber macht, was ein politischer Liberalismus im aktuellen und künftigen Umfeld bedeutet.

Ob Rhinows Botschaft gehört wird? Zur Vernissage seiner Memoiren Ende vergangener Woche in Basel kamen viele Weggefährten und Prominente wie Rolf Soiron, Massimo Rocchi, Luzius Wildhaber, Roger Blum oder Georg Kreis. Dagegen war kein einziges amtierendes Mitglied von kantonalen und eidgenössischen Parlamenten oder Regierungen anwesend.

Der Liberalismus ist keine Doktrin und schon gar keine Bibel

BaZ, Thomas Gubler, 02.02.2022

Ein neues Buch des Baselbieter Alt-FDP-Ständerats und Staatsrechtlers René Rhinow zeigt Möglichkeiten und Wege, das freiheitliche Gedankengut lebendig zu erhalten. 

Wer wäre berufener als der emeritierte Staatsrechtler an der Uni Basel, Baselbieter Alt-Ständerat und frühere Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes, René Rhinow, der alten Idee des Liberalismus neuen Inhalt und möglicherweise auch neuen Schwung zu verleihen? Kaum einer, der den Liberalismus von seiner theoretischen und seiner praktischen Seite, aber auch all die Exponenten, die sich zu Recht oder nur vermeintlich für liberal halten, besser kennt als er. Und René Rhinow hat es getan, mit seinem neuen Buch «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus», das am Dienstagabend im Rahmen einer Buchvernissage mit Podiumsgespräch in der Kantonsbibliothek Baselland vorgestellt wurde.

Das Buch besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, wovon der erste mit dem Titel «Freiheit gehört auch den Andern» der zentrale, aktuelle und brandneue ist. Die andern beiden Essays sind den Säulen der Demokratie und dem Verfassungsstaat gewidmet. Sie wurden bereits in Zeitschriften veröffentlicht und erscheinen nun erstmals in Buchform.

Keine Doktrin

Doch was ist nun der Liberalismus, und was macht ihn aus? Da wartet Rhinow zuerst mit einer kleinen Enttäuschung auf. Er liefert nämlich keine Definitionen, keine Patentrezepte und schon gar keine Schlagwörter. Stattdessen stellt er fest: «Den wahren Liberalismus gibt es nicht.» Es könne darunter Verschiedenes, bis zu Gegensätzlichem, verstanden werden. Das beschränke sich nicht etwa auf das unterschiedliche Verständnis von europäischem und amerikanischem Liberalismus. Auch in der Schweiz decke der Liberalismus ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen ab.

Der gemeinsame Nenner, so Rhinow, dürfte darin liegen, «dass es diesem (dem Liberalismus) darum geht, Wege zu suchen, wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können». Bei der Einführung an der Vernissage wurde der Autor dann noch etwas konkreter: «Der Liberalismus ist keine Doktrin und schon gar keine Bibel. Auch kein Fahrplan, sondern allenfalls ein Kompass, der das Ziel angibt, aber mehrere Wege zulässt, dieses zu erreichen.»

Rhinow wäre aber nicht Rhinow, wenn er nicht den einen oder anderen Wegweiser präsentieren würde, um den Diskurs darüber zu befördern, was Freiheit in der Lebenswirklichkeit bedeutet. So widmet sich der Autor im genannten Essay «Freiheit gehört auch den Andern» der Idee eines Liberalismus, der auf Menschenwürde beruht und diese ernst nimmt. Dabei postuliert er, «dass die Freiheit allen gehört und sie damit auch die Freiheit der Andern einschliesst». Auch der Schwachen.

Nicht dass dadurch die Selbstverantwortung ihre Bedeutung verlieren soll. Diese habe aber ihre Grenzen. Selbstverantwortung bedürfe der Mitverantwortung. Und so bringt Rhinow drei weitere Begriffe ins Spiel – den mitfühlenden und den sozialen Liberalismus sowie, aus der Sorge um die Mit- und Nachwelt, den nachhaltigen Liberalismus. Gerade letzterer liegt ihm besonders am Herzen: «Ich erblicke in der Nachhaltigkeit der Freiheit ein grosses Desideratum der Liberalismusdiskussion.» Einer menschenwürdigen Freiheit, so Rhinow, entspreche die Idee einer sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft. So stehe etwa der Wettbewerb nicht über der Freiheit, sondern in deren Dienst. «Er findet dort seine Grenzen, wo Freiheitsbedürfnisse nicht mit dem Instrument des Wettbewerbs befriedigt werden können.»

Ist Liberalismus elitär?

In der anschliessenden Podiumsdiskussion – geleitet von Georg Kreis mit René Rhinow, der FDP-Landrätin und ehemaligen FDP-Kantonalpräsidentin Saskia Schenker und Laura Zimmermann, Vorstandsmitglied der der Operation Libero – wurden dann vor allem die Probleme angesprochen, die der Liberalismus stellt. Zimmermann etwa bemängelte, dass liberales Denken und liberales Handeln oft nicht übereinstimmten. Demgegenüber beklagte Schenker, dass liberale Differenziertheit in der heutigen Politik gegenüber dem plakativen «Schwarz-Weiss» im Nachteil sei. Und aus dem Publikum stellte der frühere Direktor des Bundesamtes für Justiz, Heinrich Koller, die rhetorische Frage, ob der Liberalismus möglicherweise etwas elitär sei.

Dass das Thema Liberalismus aber nach wie vor interessiert, zeigte der grosse Aufmarsch in der Kantonsbibliothek. Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft liessen sich den Anlass nicht entgehen und erwiesen damit auch dem 79-jährigen Alt-Politiker, Wissenschaftler und Denker René Rhinow die Ehre.

Liberalismus: Die Kunst der Ambivalenz

nzzas.ch, Peer Teuwsen, 29.01.2022

Beim Liberalismus handelt es sich um eine Idee, die der Wahrheit als endgültiger Erkenntnis sogar entgegenläuft.

Der Liberalismus kann einem leidtun, er muss so vieles über sich ergehen lassen. Er hat unzählige falsche Freunde. Und wenige kluge Feinde. Sie alle zerren und nagen an ihm, dass man den Eindruck gewinnen könnte, er löse sich in seine Bestandteile auf.

In der Schweiz etwa, klagt man, sei der FDP, als einstiger Gralshüterin der Idee, die grosse Erzählung abhandengekommen, sie könne den Begriff nicht mehr positiv aufladen – und verliere deshalb immer weiter an Boden. Nun aber hat ein wahrer Freund ein Buch verfasst, das sich die Mühe nimmt, den Liberalismus wieder auf sichere Beine zu stellen. Es ist auch ein Vermächtnis.

Der 79-jährige René Rhinow, als früherer Basler Professor für Staatsrecht, FDP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes eine der grossen Figuren dieses Landes, hat so viel über Liberalismus gelesen wie wohl wenige. Sein Buch «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus», das nächste Woche erscheint, erzählt die Ideengeschichte des Liberalismus und damit auch all die Anmassungen und Vereinnahmungen, die der Begriff sich bis heute gefallen lassen muss. Rhinow macht damit vor allem eins klar: «Den wahren Liberalismus gibt es nicht.»

Es handelt sich beim Liberalismus um eine Idee, die der Wahrheit als endgültiger Erkenntnis sogar entgegenläuft. Ein echter Liberaler muss es aushalten, sich immer wieder neu zu erfinden und seine vermeintlichen Gewissheiten zu hinterfragen. Er steht auf zwei Beinen und humpelt nicht allein auf dem linken oder rechten Bein durch die Welt. Seine vornehmste Aufgabe, meint Rhinow, sei folgende: «Liberale bauen Brücken – auf der Basis von Empathie und als Voraussetzung zur wechselseitigen Verständigung.»

Es ist das, was Rhinow vorlebt. Es ist diese Ambivalenz, die es auszuhalten und aus der es Kraft zu schöpfen gilt, die sich als roter Faden durch das ganze Buch zieht, bis hin zu diesem Satz: «Wir brauchen die Freiheit, um den Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern.»

Schliesslich kommt Rhinow zu seinem Begriff der Freiheit, oberste Maxime des Liberalismus. Sie zu erhalten, sei in Zeiten, in denen wir offenbar «freiheitsverwöhnt» geworden sind und vergessen haben, «als wie leidvoll sich der Kampf um die Freiheit erwiesen hat», das Gebot der Stunde.

Das könne nur gelingen, wenn die Freiheit «in der Menschenwürde verankert ist, die allen gleichermassen zukommt. Das ist die Ausgangsthese meines Freiheitsverständnisses.» Hier führt einer vor, was echter Liberalismus bedeutet: ein Mensch zu sein, der zwischen den Lagern steht – und sich doch immer für die Freiheit der anderen in die Bresche wirft. Was für ein Kraftakt.

René Rhinow: «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus». Hier und Jetzt 2022. 208 Seiten. Fr. 38.90