Liberalismus: Die Kunst der Ambivalenz

nzzas.ch, Peer Teuwsen, 29.01.2022

Beim Liberalismus handelt es sich um eine Idee, die der Wahrheit als endgültiger Erkenntnis sogar entgegenläuft.

Der Liberalismus kann einem leidtun, er muss so vieles über sich ergehen lassen. Er hat unzählige falsche Freunde. Und wenige kluge Feinde. Sie alle zerren und nagen an ihm, dass man den Eindruck gewinnen könnte, er löse sich in seine Bestandteile auf.

In der Schweiz etwa, klagt man, sei der FDP, als einstiger Gralshüterin der Idee, die grosse Erzählung abhandengekommen, sie könne den Begriff nicht mehr positiv aufladen – und verliere deshalb immer weiter an Boden. Nun aber hat ein wahrer Freund ein Buch verfasst, das sich die Mühe nimmt, den Liberalismus wieder auf sichere Beine zu stellen. Es ist auch ein Vermächtnis.

Der 79-jährige René Rhinow, als früherer Basler Professor für Staatsrecht, FDP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes eine der grossen Figuren dieses Landes, hat so viel über Liberalismus gelesen wie wohl wenige. Sein Buch «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus», das nächste Woche erscheint, erzählt die Ideengeschichte des Liberalismus und damit auch all die Anmassungen und Vereinnahmungen, die der Begriff sich bis heute gefallen lassen muss. Rhinow macht damit vor allem eins klar: «Den wahren Liberalismus gibt es nicht.»

Es handelt sich beim Liberalismus um eine Idee, die der Wahrheit als endgültiger Erkenntnis sogar entgegenläuft. Ein echter Liberaler muss es aushalten, sich immer wieder neu zu erfinden und seine vermeintlichen Gewissheiten zu hinterfragen. Er steht auf zwei Beinen und humpelt nicht allein auf dem linken oder rechten Bein durch die Welt. Seine vornehmste Aufgabe, meint Rhinow, sei folgende: «Liberale bauen Brücken – auf der Basis von Empathie und als Voraussetzung zur wechselseitigen Verständigung.»

Es ist das, was Rhinow vorlebt. Es ist diese Ambivalenz, die es auszuhalten und aus der es Kraft zu schöpfen gilt, die sich als roter Faden durch das ganze Buch zieht, bis hin zu diesem Satz: «Wir brauchen die Freiheit, um den Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Missbrauch der Freiheit zu verhindern.»

Schliesslich kommt Rhinow zu seinem Begriff der Freiheit, oberste Maxime des Liberalismus. Sie zu erhalten, sei in Zeiten, in denen wir offenbar «freiheitsverwöhnt» geworden sind und vergessen haben, «als wie leidvoll sich der Kampf um die Freiheit erwiesen hat», das Gebot der Stunde.

Das könne nur gelingen, wenn die Freiheit «in der Menschenwürde verankert ist, die allen gleichermassen zukommt. Das ist die Ausgangsthese meines Freiheitsverständnisses.» Hier führt einer vor, was echter Liberalismus bedeutet: ein Mensch zu sein, der zwischen den Lagern steht – und sich doch immer für die Freiheit der anderen in die Bresche wirft. Was für ein Kraftakt.

René Rhinow: «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus». Hier und Jetzt 2022. 208 Seiten. Fr. 38.90