Der Liberalismus ist keine Doktrin und schon gar keine Bibel

BaZ, Thomas Gubler, 02.02.2022

Ein neues Buch des Baselbieter Alt-FDP-Ständerats und Staatsrechtlers René Rhinow zeigt Möglichkeiten und Wege, das freiheitliche Gedankengut lebendig zu erhalten. 

Wer wäre berufener als der emeritierte Staatsrechtler an der Uni Basel, Baselbieter Alt-Ständerat und frühere Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes, René Rhinow, der alten Idee des Liberalismus neuen Inhalt und möglicherweise auch neuen Schwung zu verleihen? Kaum einer, der den Liberalismus von seiner theoretischen und seiner praktischen Seite, aber auch all die Exponenten, die sich zu Recht oder nur vermeintlich für liberal halten, besser kennt als er. Und René Rhinow hat es getan, mit seinem neuen Buch «Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus», das am Dienstagabend im Rahmen einer Buchvernissage mit Podiumsgespräch in der Kantonsbibliothek Baselland vorgestellt wurde.

Das Buch besteht im Wesentlichen aus drei Teilen, wovon der erste mit dem Titel «Freiheit gehört auch den Andern» der zentrale, aktuelle und brandneue ist. Die andern beiden Essays sind den Säulen der Demokratie und dem Verfassungsstaat gewidmet. Sie wurden bereits in Zeitschriften veröffentlicht und erscheinen nun erstmals in Buchform.

Keine Doktrin

Doch was ist nun der Liberalismus, und was macht ihn aus? Da wartet Rhinow zuerst mit einer kleinen Enttäuschung auf. Er liefert nämlich keine Definitionen, keine Patentrezepte und schon gar keine Schlagwörter. Stattdessen stellt er fest: «Den wahren Liberalismus gibt es nicht.» Es könne darunter Verschiedenes, bis zu Gegensätzlichem, verstanden werden. Das beschränke sich nicht etwa auf das unterschiedliche Verständnis von europäischem und amerikanischem Liberalismus. Auch in der Schweiz decke der Liberalismus ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen ab.

Der gemeinsame Nenner, so Rhinow, dürfte darin liegen, «dass es diesem (dem Liberalismus) darum geht, Wege zu suchen, wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können». Bei der Einführung an der Vernissage wurde der Autor dann noch etwas konkreter: «Der Liberalismus ist keine Doktrin und schon gar keine Bibel. Auch kein Fahrplan, sondern allenfalls ein Kompass, der das Ziel angibt, aber mehrere Wege zulässt, dieses zu erreichen.»

Rhinow wäre aber nicht Rhinow, wenn er nicht den einen oder anderen Wegweiser präsentieren würde, um den Diskurs darüber zu befördern, was Freiheit in der Lebenswirklichkeit bedeutet. So widmet sich der Autor im genannten Essay «Freiheit gehört auch den Andern» der Idee eines Liberalismus, der auf Menschenwürde beruht und diese ernst nimmt. Dabei postuliert er, «dass die Freiheit allen gehört und sie damit auch die Freiheit der Andern einschliesst». Auch der Schwachen.

Nicht dass dadurch die Selbstverantwortung ihre Bedeutung verlieren soll. Diese habe aber ihre Grenzen. Selbstverantwortung bedürfe der Mitverantwortung. Und so bringt Rhinow drei weitere Begriffe ins Spiel – den mitfühlenden und den sozialen Liberalismus sowie, aus der Sorge um die Mit- und Nachwelt, den nachhaltigen Liberalismus. Gerade letzterer liegt ihm besonders am Herzen: «Ich erblicke in der Nachhaltigkeit der Freiheit ein grosses Desideratum der Liberalismusdiskussion.» Einer menschenwürdigen Freiheit, so Rhinow, entspreche die Idee einer sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft. So stehe etwa der Wettbewerb nicht über der Freiheit, sondern in deren Dienst. «Er findet dort seine Grenzen, wo Freiheitsbedürfnisse nicht mit dem Instrument des Wettbewerbs befriedigt werden können.»

Ist Liberalismus elitär?

In der anschliessenden Podiumsdiskussion – geleitet von Georg Kreis mit René Rhinow, der FDP-Landrätin und ehemaligen FDP-Kantonalpräsidentin Saskia Schenker und Laura Zimmermann, Vorstandsmitglied der der Operation Libero – wurden dann vor allem die Probleme angesprochen, die der Liberalismus stellt. Zimmermann etwa bemängelte, dass liberales Denken und liberales Handeln oft nicht übereinstimmten. Demgegenüber beklagte Schenker, dass liberale Differenziertheit in der heutigen Politik gegenüber dem plakativen «Schwarz-Weiss» im Nachteil sei. Und aus dem Publikum stellte der frühere Direktor des Bundesamtes für Justiz, Heinrich Koller, die rhetorische Frage, ob der Liberalismus möglicherweise etwas elitär sei.

Dass das Thema Liberalismus aber nach wie vor interessiert, zeigte der grosse Aufmarsch in der Kantonsbibliothek. Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft liessen sich den Anlass nicht entgehen und erwiesen damit auch dem 79-jährigen Alt-Politiker, Wissenschaftler und Denker René Rhinow die Ehre.