NZZ, Gastkommentar, 9.2.2022
Freiheit ist Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Wer den Liberalismus ernst nimmt, versteht Freiheit im Kontext, also überall, wo sich Freiheitsbedürfnisse manifestieren.
Die Pandemie hat auch ihre guten Seiten: Selten wurde in den letzten Jahrzehnten so intensiv, aber auch mit unterschiedlichen Vorstellungen und Intentionen um eine gesellschaftliche und staatsrechtliche Grundkategorie gerungen wie derzeit um die Freiheit.
Freiheit beanspruchen die Gegner einschränkender Massnahmen des Staates von Gewerbetreibenden über Impfskeptiker bis zu Partygängern. Aber auch an Covid Erkrankte sowie die grosse Mehrheit des Volkes machen den Schutz ihrer Freiheit geltend. Sie wollen in ihrer Gesundheit – als Voraussetzung eines freien Lebens – geschützt und nicht angesteckt werden.
Freiheit bedeutet Selbstbestimmung, das heisst die reelle Chance eines Menschen, sich frei betätigen und entfalten zu können. Freiheit steht im Zentrum des Liberalismus, und zwar eine Freiheit, die auch die Freiheit der anderen achtet. Der Liberalismus ist durch eine offene Denkrichtung geprägt, einem Kompass vergleichbar, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Den einzig wahren Liberalismus gibt es nicht. Aber es finden sich Eckpfeiler, die zur Essenz des Liberalismus gehören und immer wieder neu zu diskutieren sind.
Freiheit auch der anderen
Die Freiheit des Liberalismus ist untrennbar verbunden mit der Würde, die jedem Menschen zusteht. Der wohl bedeutendste Philosoph der europäischen Aufklärung, Immanuel Kant, bezeichnete in seiner Rechtslehre (1784) Freiheit als das eine Menschenrecht, das in der inneren Freiheit jedes Menschen, in seiner Würde begründet ist. Sie verbietet, einen anderen Menschen bloss als Mittel zu eigenen Zwecken zu gebrauchen, ihn zu instrumentalisieren und zum blossen Objekt zu degradieren.
Eine Vielzahl moderner Verfassungen, so auch unsere Bundesverfassung, erklären Schutz und Achtung dieser Würde als vorrangiges Staatsziel. Die amerikanische Rechtsphilosophin Martha Nussbaum postuliert, dass Menschen nicht nur eine Würde haben, sondern dass ihnen auch reelle Möglichkeiten offenstehen müssen, ein lebenswertes Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Für einen Liberalismus, in dessen Zentrum ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde steht, bedeutet Freiheit mehr als die Abwesenheit von äusserem Zwang. Zu ihr gehört auch die Sorge, dass Freie von ihrer Freiheit in der Lebenswirklichkeit in Würde Gebrauch machen können.
Wenn der Kristallisationspunkt des Liberalismus die Freiheit jedes Menschen ist, so stellt sich die Frage nach dem Menschenbild. Haben viele Liberale nicht vor allem den tätigen und vernunftgeleiteten Menschen vor Augen, der in der Lage ist, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten?
Doch Menschenwürde und Freiheit stehen auch Schwächeren zu, wie Angehörigen von Minderheiten, Kranken, Ausländern, Randständigen, derzeit etwa auch Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach Asyl oder nach einem besseren Leben. Welches ist ihr Platz in der liberalen Ideenwelt? Ich befürworte einen «mitfühlenden» Liberalismus im Sinne des grossen liberalen Vordenkers John Stuart Mill, um anzudeuten, dass liberale Antworten auch für das Schicksal benachteiligter Menschen gesucht werden müssen.
Was wenig bekannt ist: Bereits Adam Smith, der Begründer der Nationalökonomie, entwickelte eine Theorie des Mitgefühls als Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, mit Empathie und Sozialkompetenz auf sein Gegenüber zu reagieren, sich selber nicht als individuelles Atom, sondern als soziales Wesen zu begreifen. Eine offene Wahrnehmung für die Lebenssituation anderer, gerade von schwächeren und notleidenden Menschen in ihrer Furcht, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, erkennen zu können, wie es um ihre Würde und deren Gefährdung tatsächlich steht. Mitgefühl wird in diesem Zusammenhang verstanden als das Vermögen, komplexe soziale Situationen von Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie verschiedener Kulturen und Werthaltungen wahrzunehmen, auch um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.
Liberale Binnenkonflikte
Freiheit ist kein abstraktes, von der Wirklichkeit abgehobenes Prinzip. Sie kann nicht losgelöst vom real existierenden Kontext erfasst und verstanden werden. Sie ist immer eingebettet in einem Sozialverbund, sei es im Familien- oder Freundeskreis, im Verein oder im Geschäftsleben, vor allem auch im Staat. Freie individuelle Entfaltung bedarf existenzieller, positiver Voraussetzungen, für die auch der Staat Verantwortung trägt. Der Mensch ist auf andere und auf staatliche oder gesellschaftliche Institutionen angewiesen, wenn er seine Lebenschancen wahrnehmen will.
Vom neuen deutschen Justizminister Marco Buschmann (FDP) stammt die treffende Umschreibung: «Freiheit ist eine Leitidee für das Zusammenleben von Menschen. Danach sollen wir uns gegenseitig möglichst viel Individualität und Selbstverwirklichung zubilligen.» Freiheit misst sich auch an der Freiheit anderer. Oder in den Worten von Pedro Lenz: Freiheit darf nicht «von der Brüderlichkeit und von der Gleichheit abgekoppelt und damit ihres Sinns beraubt» werden.
Stehen sich wie in der gegenwärtigen Pandemie unterschiedliche Freiheitsinteressen gegenüber, geht es in einer liberalen lebensweltlichen Praxis um eine Wert- und Interessenabwägung zwischen unterschiedlichen Freiheitsbedürfnissen. Wie sind Freiheitsinteressen zu gewichten, welche sollen vorgehen oder in Einklang gebracht werden, beispielsweise Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen, die Anliegen gegenwärtiger und diejenigen künftiger Generationen, der Eigentumsschutz und raumplanerische Interessen?
Aus liberaler Sicht prävalieren grundsätzlich jene Freiheitsinteressen, welche die Menschenwürde stärker tangieren. Man kann auch von einem Vorrang qualitativer vor rein quantitativer Freiheit sprechen. Wesentlich erscheint die Frage, «welche Freiheit» zu schützen ist, also welche Qualität eine bestimmte Option aufweist. Diese Interessenabwägung ist ein elementares Kennzeichen des Liberalismus, weil es immer gilt, die Freiheit aller ernst zu nehmen und nach deren optimalen Verwirklichungsbedingungen zu suchen.
Die Bewältigung liberaler Binnenkonflikte kann von der modernen Verfassungslehre profitieren. Nach dieser sollen unterschiedliche Freiheitsbedürfnisse einander durch Konkordanz und nach Massgabe des Verhältnismässigkeitsprinzips zugeordnet werden, um Freiheiten aller zu optimieren. Es ist dem demokratischen Rechtsstaat übertragen, diese Aufgabe der pluralen Freiheitsjustierung in politischen und gerichtlichen Prozessen vorzunehmen, vor allem auf der Basis und in den Schranken der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte.
Freiheit in der Demokratie
Staatsrechtliche Freiheit wird traditionell in einen Bezug gesetzt zum Staat, in der Regel zum freiheitsbedrohenden Staat. Die Entwicklung liberaler Ideen rieb und reibt sich bis heute oft an diesem imaginären Machtapparat. Ist der Staat mit seiner Macht an sich böse (Jacob Burckhardt) oder Hort der Sittlichkeit (Hegel)?
Freiheit verlangt in der rechtsstaatlichen Demokratie jedenfalls mehr als Abwehr staatlicher Eingriffe. Dem Verfassungsstaat ist es auch aufgegeben, die Freiheit zu schützen, vor allem im Rahmen der Grundrechte der Verfassung. Das entbindet Liberale nicht von einer kritischen Überprüfung staatlichen Handelns auf unangemessene Eingriffe in Freiheitspositionen. Dies ist auch Aufgabe demokratisch legitimierter, unabhängiger Instanzen. Freiheit in der Demokratie ist zudem aktive, politische Freiheit als Mitbestimmung bei den Geschicken des Gemeinwesens. Diese ist konstituierend für eine rechtsstaatliche Demokratie.
Freiheit ist Freiheit in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Viele Tenöre des Liberalismus, oft sind es Ökonomen, beschränken ihre Überlegungen auf die Wirtschaft und blenden weitere Freiheitsbedürfnisse in der Gesellschaft aus. So wichtig der Wirtschaftsliberalismus ist, stellt er nur eines der Standbeine des Liberalismus dar. Wer den Liberalismus ernst nimmt, versteht Freiheit im Kontext, also überall, wo sich Freiheitsbedürfnisse manifestieren.
Liberaler Freiheitsgebrauch ist geprägt von Verantwortung. Diese wird in erster Linie verstanden als Selbstverantwortung im Rahmen des Menschenmöglichen. Doch muss die Mitverantwortung essenziell dazutreten. Sie äussert sich in mehreren Dimensionen: im erwähnten mitfühlenden Liberalismus, im Einbezug der sozialen Voraussetzungen und der Bedingungen autonomer Freiheitsausübung sowie im umweltbewussten und nachhaltigen Liberalismus.
Wenn das von Liberalen hochgehaltene Junktim von Freiheit und Verantwortung sinnhaft sein soll, dann muss es auch die Verantwortung gegenüber Natur und Mitwelt mit einschliessen. Zur Mitwelt des Menschen gehören nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch das ihn umgebende ökologische Universum.